Ebbe und Flut

Wer an der Ostsee zur Schule geht, lernt nicht viel über die Gezeiten. Der Mond erzeuge sie, erfahre ich, seine Gravitationskraft, die auf die Ozeane wirke.

Daraus entwickle ich die Vorstellung einer großen Wasserwelle in Richtung des Mondes, die um die Erde schwappt und an den Küsten die Gezeiten bewirkt. Und zwar einmal am Tag Ebbe und einmal am Tag Flut. Denn die Erde dreht sich vor dem Mond wie die Braut vor dem Spiegel: Einmal herum in vierundzwanzig Stunden.

Diese Vorstellung ist zwar plausibel, aber falsch. Ebbe und Flut haben eine Periode von zwölf Stunden, nicht von vierundzwanzig: Zwei Mal Ebbe, zwei Mal Flut am Tag. Unsere Vorstellungskraft endet hier. Das Bild einer rotierenden Erde mit dem sich darum herumschwingenden Mond kann zwar vieles erklären, was am Himmel zu sehen ist, aber nicht die Gezeiten.

Leider gibt es überhaupt kein Vorstellungsbild mit Mond und Erde, das die tatsächlichen Verhältnisse auch nur halbwegs plausibel erscheinen lässt:

Durch das Zusammenspiel von Erde, Mond und Sonne entstehen auf den Weltmeeren Kreiswellen. Sie drehen sich um amphidromische Punkte.

Wenn die Kreiswellen auf Küsten treffen, senkt und hebt sich dort der Wasserspiegel. Zwei Mal am Tag!

Wo die amphidromischen Punkte liegen und wie sich die Kreiswellen ausbilden, richtet sich nach den Küstenlinien und Wassertiefen.

Man kann alles ausrechnen, aber die Rechenergebnisse sind nicht plausibel. Das muss man einfach hinnehmen.

Die amphidromischen Punkte und ihre Kreiswellen sind stabil. Sie wandern nicht. Auch in der Nordsee und im Kanal entstehen sie.

Nur eben nicht in der Ostsee.